Im Überstundenprozess geht es um den Streit, in welchem Umfang Mehrarbeit bezahlt werden muss. Arbeitsrechtlich problematisch stellt sich dabei die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast dar. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellte der Arbeitnehmerseite dazu prozessuale Hindernisse auf. Nur wenn diese erfolgreich gemeistert werden, gewinnt der Arbeitnehmer den Überstundenprozess. Der Heppenheimer Fachanwalt für Arbeitsrecht Alexander Dietrich warnt daher weiter davor, nur mit Arbeitszeitangaben Überstundenvergütung einzuklagen.
Der Überstundenprozess gleicht einem Hürdenlauf
- Die erste Hürde: Der klagende Arbeitnehmer muss vortragen, dass er „Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers hierzu bereitgehalten hat.“
- Die zweite Hürde: Der Arbeitnehmer muss darlegen, dass „der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat.“
Bisher war offen, ob die zwischenzeitliche Judikatur des EuGH zur arbeitgeberseitigen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in der Entscheidung EuGH, 14.05.2019 – C-55/18 daran etwas geändert hat. Mit der Entscheidung werden die EU-Mitgliedstaaten angewiesen, die Arbeitgeber zu verpflichten , ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Ob daraus weitergehende Folgen für den Überstundenprozess bestehen, war bisher offen. Das BAG erteilt dem nun eine Absage. In dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 359/21 hält das höchste deutsche Arbeitsgericht an seiner bisherigen Linie fest.
Erstinstanzlich hatte der klagende Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht Emden noch gewonnen. Während nach herkömmlicher Rechtsprechung positive Kenntnis von Überstunden beim Arbeitgeber vorliegen muss, verschlechtere der Arbeitgeber seine Position dadurch, wenn er keine Arbeitszeiterfassung durchführt. Indem der Arbeitgeber es unterlässt, durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung Kenntnis zu erlangen, führe das zu Beweiserleichterungen des Arbeitnehmers. Dann reiche es, für eine schlüssige Klagebegründung die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da die Beklagte ihrerseits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, sei die Klage begründet. Das Arbeitsgericht hatte so also eine Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast zu Lasten der Arbeitgeberseite angenommen. Denn die muss ja seit dem EuGH-Urteil Arbeitszeitaufzeichnungen führen.
LAG und BAG: Fehlende Arbeitszeitaufzeichnung schaden dem Arbeitgeber im Überstundenprozess nicht
Landesarbeitsgericht Niedersachsen und nachfolgend das BAG urteilten anders: Die Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit habe vor allem den Arbeitsschutz als Zweck. Die Verpflichtung erleichtere aber dem Arbeitnehmer nicht das Führen der Darlegung im Überstundenprozess.
Dem klagenden Auslieferungsfahrer fiel danach zur Last, dass er nicht ausreichend konkret vorgetragen hat. Er hätte die Notwendigkeit darlegen müssen, ohne Pausenzeiten bei den Fahrten durchzuarbeiten. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genüge hierfür nicht. Das führt das BAG in seiner Pressemitteilung zur Entscheidung vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 359/21 aus. Das LAG habe zu Recht offengelassen, ob Kläger keine Pausen gehabt habe.